Mittwoch, 24. November 2010

Feng Shui als Ausweg aus der Krise der Architektur

Seit dem 2. Weltkrieg hat sich in deutschen Innenstädten ein beispielloses architektonisches Chaos breit gemacht. Moderne Planer folgen nur noch Renditevorgaben und dem “technisch Machbaren”. Wir Menschen und unsere Sehnsucht nach Identität und Harmonie bleiben auf der Strecke. Gibt es einen Ausweg aus dieser Krise der modernen Architektur?

Volker Marx, Architekt und Lehrbeauftragter an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg (HfBK), hat gerade einen äußerst interessanten Artikel unter dem Titel “Feng Shui oder die Krise in der Architektur” veröffentlicht. Darin gibt er einen Überblick über deutsche Baugeschichte der vergangenen Jahrhunderte. Bezug nehmend auf die stadtplanerischen Entwicklungen der letzten 50 Jahre attestiert Marx der modernen Architektur Beliebigkeit. Dies, so Marx, führt derzeit jedoch dazu, dass immer mehr Architekten nach Alternativen suchen, “nach neuer Harmonie”.

Es ist noch gar nicht so lange her, dass wir in unserem Beitrag “Feng Shui im neuen Botanischen Garten Shanghai” über den deutschen Landschaftsarchitekten und Gestalter des neuen Botanischen Gartens in Chinas größter Metropole, Christoph Valentien, berichtet haben. Valentien verblüffte uns mit seiner offenbar während der Planungsarbeiten zum EXPO-Parkgelände erlangten Einsicht: “Man muss heute Stadt und Landschaft als Einheit betrachten”. Zu Recht vermuteten wir hier eine Rückbesinnung auf Architekturtraditionen, hervorgerufen durch eine intensive Auseinandersetzung mit der chinesischen Architekturgeschichte.

Während wir im Zusammenhang mit der Berichterstattung über Christoph Valentien bei ZEIT ONLINE noch selbst “das Kind beim Namen nennen” mussten, leitet Volker Marx seinen Artikel über die Krise der Architektur unmittelbar mit einer kurzen Abhandlung über Herkunft und Entstehung des Feng Shui ein. Damit gibt er gleich zu Beginn die argumentative Stoßrichtung vor: Feng Shui wird hier als Ausweg aus der Krise der Architektur gesehen. Dies jedoch nicht in Form fremder Kultureinflüsse, sondern ebenso wie bei Valentien als Rückbesinnung auf die eigene und somit europäische Architekturtradition.

Von der originären Aufgabe eines Architekten
Volker Marx ruft in seinem Beitrag noch einmal in Erinnerung, worin eigentlich die originäre Aufgabe eines Architekten besteht, nämlich darin, “durch die Gestaltung des Umfeldes der Menschen eine Harmonie mit der Umgebung herzustellen”.

Diese Aussage gilt sowohl für die Gestaltung von Gebrauchsgegenständen als auch für “Gedanken zu den Umständen des Lebens und der Gesundheit bis zum Konzept für ganze Städte, einschließlich der zugehörigen Landschaft”. Laut Marx spielen hierbei übrigens psychologische Analysen, Gedanken zur Art des Lebens und Arbeitens der potenziellen Bewohner, bis hin zu Einflüssen von Anlagen und Gebäuden auf die Umwelt eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Diese Grundsatzüberlegungen zum Leben in der Industriegesellschaft hat sich Marx nicht selbst ausgedacht, sondern sie sind -- und dies wussten wir bis zum heutigen Tage auch nicht -- bereits 1933 anlässlich der CIAM in der Charta von Athen niedergeschrieben. Noch im Bauhaus bis zum Ende der 30er Jahre wurde an der Akademie in Dessau versucht, die Vorgaben der Charta von Athen bis ins Detail umzusetzen. Die Ausbildung der Architekten erfolgte gemeinsam mit Künstlern, Musikern und Tänzern, mit Philosophen und Literaten. Auf diese Weise sollte der neuen industriellen Welt “eine menschliche Gestalt gegeben werden”.

Nach dem Krieg und mit dem Einsetzen des deutschen Wirtschaftswunders ist versäumt worden, eine geordnete Neugestaltung der zerstörten Innenstädte nach den Gedanken der Charta vorzunehmen. Der explodierende Individualverkehr, das Bedürfnis nach schnellem Aufbau von Wohn- und Arbeitsräumen und nicht zuletzt neue technische Möglichkeiten, die moderne Großprojekte beispiellosen Ausmaßes ermöglichten, führten schließlich zu einem formalen Chaos in der Architektur und darüber hinaus auch in vielen anderen Bereichen von Kunst und Kutlur.

Laut Marx setzt sich dieses “Chaos” bis in die heutige Zeit fort: “Die Masse der Planer, Architekten und Designer scheint hilflos und völlig dem Zwang des alltäglichen Erfüllens von Renditewünschen und schnellen Ergebnissen unterworfen.” Doch wie wir auch schon an Christoph Valentien gesehen haben, scheint nun ein erstes Umdenken im Gange zu sein. Bereits auf einem der größten Architektenforen in Dessau 1994, auf dem auch Architekturgrößen wie Peter Eisenman (Mahnmal in Berlin), Christoph Ingenhoven (Bahnhof Stuttgart 21) oder Zaha Hadid (Feuerwache in Weil) die Visionen ihrer Moderne vorstellten, wurden Stimmen laut, die beklagten, wie sehr die Architekten der heutigen Zeit der “Realität” unterworfen sind.

Standardschachteln für nicht artgerechte Menschenhaltung
Gebaut werden muss heutzutage das, was überhaupt angeboten wird bzw. was technisch möglich ist. Gelegenheit, “sich mit menschlichen Bedürfnissen, harmonischer Gestaltung der Umwelt oder einer sinnvollen städtebaulichen Entwicklung zu befassen”, gibt es viel zu selten. Betrachtet man allein die Planung und den Bau von Einfamilienhäusern, wird das ganze Ausmaß an Rationalisierung und Unterordnung unter die technischen Bedürfnisse unserer Industriegesellschaft deutlich. Nur fünf Prozent aller Einfamilienhäuser werden heute noch von Architekten geplant. Der Rest ist vom “Markt von der Industrie der Standardschachteln für nicht artgerechte Menschenhaltung überschwemmt”.

Am Ende argumentiert Volker Marx fast gänzlich in unserem Sinne sehr pointiert: “Die Menschen, die in diesen Städten und wie mit Krebs befallenen Dörfern leben müssen, suchen dann ganz logisch nach der fehlenden Harmonie, greifen dann auch zu exotischen Quellen wie Feng Shui.” Mit anderen Worten: Wenn die Stadtplaner und Architekten der Moderne ihrer eigentlichen Verantwortung, ja sogar Pflicht nachkommen würden, ein Gleichgewicht zwischen Lebens- und Arbeitsraum der Menschen und der Umwelt herzustellen, bräuchten die Menschen hierzulande kein Feng Shui.

Dieses “Beinahe-Fazit” greift natürlich zu kurz. Wir sparen uns an dieser Stelle aber den Widerspruch, denn im Grunde ist es uns egal, auf welche Weise und mit welchem Etikett beklebt “die neue Harmonie” in unsere Innenstädte, Häuser und Wohnungen einzieht, Hauptsache sie hält überhaupt irgendwann Einzug. Aus diesem Grunde unterstützen wir natürlich diese Entwicklung und danken Volker Marx für seinen sehr gelungenen Beitrag.

Quelle: www.everyday-feng-shui.de

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